Nach Angaben der American Library Association (ALA) wurden 2024 in den USA so viele Bücher angefochten wie selten zuvor – betroffen sind besonders Werke, die Diversität, Identität, Rassismus, Gleichberechtigung oder Sexualität thematisieren. Hier findest Du die wichtigsten Zahlen, Hintergründe und die Top-Titel, die im Visier von Zensurversuchen standen.
Worum es geht – und warum das wichtig ist
Dass Klassiker wie Die Farbe Lila von Alice Walker oder die Werke der Bürgerrechtlerin Maya Angelou immer wieder angegriffen werden, überrascht kaum noch. Doch 2024 standen erneut auch populäre Reihen wie Harry Potter, Stephen Kings Carrie oder sogar scheinbar harmlose Kinderbücher wie Pu der Bär im Fokus.
Hinter vielen Anfechtungen stehen organisierte Kampagnen, die Bibliotheken und Schulen unter Druck setzen – mit dem Ziel, ganze Regale leerzuräumen. Für uns als Leser:innen heißt das: genau hinsehen, informiert bleiben und Lesefreiheit verteidigen.
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Top 10 Most Challenged Books 2024 (USA)
Die folgende Liste zeigt die im Jahr 2024 am häufigsten beanstandeten Titel in den USA. Wir ergänzen zu jedem Buch eine kurze Einordnung, warum es ins Visier geraten ist.

1. All Boys Aren't Blue
von George M. Johnson
Worum geht’s?
Eine eindringliche Memoir in Essays über Black Queer Identity, Kindheit, Jugend und Collegejahre in New Jersey und Virginia – von Mobbing-Erfahrungen bis zu Momenten der Selbstermächtigung.
Genre: Memoir, Non-Fiction, Young Adult
Warum angefochten?
Häufig beanstandet wegen LGBTQIA+-Themen, Sexualität und offener Sprache zu Identität und Rassismus.

2. Gender Queer
von Maia Kobabe
Worum geht’s?
Autobiografische Graphic Novel über Geschlechtsidentität, Coming-out und Körper – schonungslos ehrlich, poetisch und zutiefst persönlich.
Genre: Graphic Novel, Memoir, Non-Fiction, Young Adult
Warum angefochten?
Häufiges Ziel wegen LGBTQIA+-Inhalten, Sexualaufklärung und expliziten Passagen in einem Jugendtitel.

3. Sehr blaue Augen
von Toni Morrison
Worum geht’s?
Die elfjährige Pecola wünscht sich blaue Augen – eine radikale Parabel über internalisierten Rassismus, Schönheitsideale und soziale Gewalt in den USA.
Genre: Literarische Fiktion, Klassiker
Auszeichnungen: Toni Morrison erhielt 1993 den Nobelpreis für Literatur.
Warum angefochten?
Wegen Themen wie Rassismus, sexualisierte Gewalt und gesellschaftliche Tabus.

4. Vielleicht lieber morgen
von Stephen Chbosky
Worum geht’s?
Coming-of-Age über Freundschaft, Trauer und erste Liebe: Der introvertierte Charlie findet Anschluss – und blickt den schwierigen Seiten des Erwachsenwerdens ins Gesicht.
Genre: Coming-of-Age, Young Adult Fiction
Auszeichnung: ALA „Best Book for Young Adults“.
Warum angefochten?
Wegen Themen wie Sexualität, Drogen, Sprache und psychische Gesundheit.

5. Tricks
von Ellen Hopkins
Worum geht’s?
Fünf Jugendliche, fünf Lebenswege: In Versform erzählt Hopkins von Liebe, Ausbeutung, Abhängigkeit und dem Versuch, Kontrolle zurückzugewinnen.
Genre: Verse Novel, Young Adult Fiction
Warum angefochten?
Häufig wegen Sexualität, Sexarbeit, Drogen und „für Jugendliche ungeeigneter“ Inhalte.

6. Eine wie Alaska
von John Green
Worum geht’s?
Miles „Pudge“ Halter erlebt Freundschaft, Liebe und Verlust an einem Internat in Alabama – ein kluger Roman über Schuld, Trauer und Sinnsuche.
Genre: Coming-of-Age, Young Adult Fiction
Auszeichnung: Michael L. Printz Award (2006).
Warum angefochten?
Wegen Sprache, Sexualität und Alkohol/Drogen im Jugendkontext.

7. Ich und Earl und das Mädchen
von Jesse Andrews
Worum geht’s?
Greg und Earl drehen schräge Kurzfilme – bis Gregs Mutter ihn bittet, sich wieder mit Rachel anzufreunden, die an Leukämie erkrankt ist. Humor trifft Herzschmerz.
Genre: Jugendroman, Humor, Coming-of-Age
Warum angefochten?
Wegen Sprache, schwarzem Humor, Krankheit/Tod im Jugendbuchkontext.

8. Crank
von Ellen Hopkins
Worum geht’s?
Kristina gerät über eine Beziehung an „crank“ (Methamphetamin) – die poetische, harte Chronik eines Absturzes und des Kampfes zurück ins Leben.
Genre: Young Adult Fiction, Verse Novel, Sozialdrama
Warum angefochten?
Wegen Drogen, Gewalt und expliziten Darstellungen im Jugendbuch.

9. Sold
von Patricia McCormick
Worum geht’s?
Die 13-jährige Lakshmi wird aus Nepal nach Indien verschleppt und in die Zwangsprostitution verkauft – ein erschütternder, dennoch hoffnungsvoller Roman.
Genre: Fiktion, Young Adult, Sozialdrama
Auszeichnung: National Book Award Finalist (2006).
Warum angefochten?
Wegen sexualisierter Gewalt, Menschenhandel und „zu harter Themen“ im Jugendbuch.

10. Flamer
von Mike Curato
Worum geht’s?
Sommerlager zwischen Middle School und High School: Aiden ringt mit Mobbing, Freundschaften und seinem Gefühl für Elias – eine sensible Graphic Novel über Selbstakzeptanz.
Genre: Graphic Novel, Coming-of-Age, Young Adult
Warum angefochten?
Wegen LGBTQIA+-Themen, Mobbing, Sprache sowie Sexualität im Jugendkontext.
Berühmte verbotene Bücher aus Vergangenheit und Gegenwart

Harry Potter und der Stein der Weisen
von J.K. Rowling
Worum geht’s?
Der Auftakt der weltberühmten Reihe über Zauberei, Freundschaft und Mut. Der Junge, der überlebt, entdeckt eine magische Welt – und wird Teil ihres ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse.
Warum verboten?
In den USA seit den 1990ern wegen angeblicher „Verherrlichung von Hexerei“ und „Okkultismus“ angefochten. Zeitweise aus Schulbibliotheken entfernt – etwa in Michigan (1999) oder Tennessee (2019).
Für wen geeignet?
Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die fantastische Welten lieben – und wissen, dass Magie auch einfach Spaß bedeuten kann.

Oryx und Crake
von Margaret Atwood
Worum geht’s?
Eine düstere Zukunftsvision über Gentechnik, Machtmissbrauch und den Untergang der Zivilisation – scharfsinnig, provokant, philosophisch.
Warum verboten?
In Utah und Texas zeitweise untersagt, da das Buch angeblich „gender fluidity“ fördere oder „anstößige Inhalte“ enthalte. Teilweise dürfen Schüler:innen es nicht einmal privat auf dem Schulgelände lesen.
Für wen geeignet?
Erwachsene Leser:innen, die literarische Dystopien und gesellschaftliche Fragen lieben – in der Tradition von Orwell und Huxley.

1984
von George Orwell
Worum geht’s?
Ein Klassiker der politischen Literatur – über Überwachung, Propaganda und den Verlust der Wahrheit in totalitären Systemen.
Warum verboten?
In der Sowjetunion bis 1988 verboten; in China darf der Titel nicht öffentlich erwähnt werden. In Russland 2024 sogar bei Kriegsprotesten beschlagnahmt.
Für wen geeignet?
Für alle, die verstehen wollen, wie Sprache Macht formt – Pflichtlektüre für politisch Interessierte.

Lolita
von Vladimir Nabokov
Worum geht’s?
Der umstrittene Roman über Obsession, Macht und Missbrauch – ein sprachlich brillantes Werk über moralische Abgründe.
Warum verboten?
Nach Erscheinen 1955 in Frankreich, Großbritannien, Argentinien, Südafrika und Neuseeland verboten. Heute in mehreren US-Schulbezirken gesperrt wegen „sexuell expliziter Inhalte“.
Für wen geeignet?
Für literarisch anspruchsvolle Leser:innen, die sich mit schwierigen Themen auseinandersetzen wollen.

Lysistrata
von Aristophanes
Worum geht’s?
Eine antike Komödie über Frauen, die durch einen Liebesstreik den Krieg beenden wollen – provokant, humorvoll und erstaunlich modern.
Warum verboten?
Unter Nazi-Besatzung und später unter der griechischen Militärjunta verboten. In den USA ab 1873 per Comstock-Gesetz als „obszön“ eingestuft, erst 1954 rehabilitiert.
Für wen geeignet?
Für Liebhaber klassischer Literatur und Satire – und alle, die sehen wollen, wie alt Feminismus wirklich ist.

Der Report der Magd
von Margaret Atwood
Worum geht’s?
Eine dystopische Zukunft: Frauen werden in einer religiösen Diktatur unterdrückt und auf ihre Gebärfähigkeit reduziert. Eine beklemmende Warnung – und zugleich eine feministische Mahnung.
Warum verboten?
In mindestens 10 US-Bundesstaaten und 67 Schulbezirken wegen „sexueller Inhalte“ und „politischer Indoktrination“ entfernt.
Für wen geeignet?
Für Leser:innen, die gesellschaftskritische Literatur und feministische Themen schätzen.

Schlachthof 5
von Kurt Vonnegut
Worum geht’s?
Ein surrealer Antikriegsroman über den Bombenangriff auf Dresden, Zeitreisen und die Absurdität menschlicher Gewalt.
Warum verboten?
Seit 1972 regelmäßig wegen „vulgärer Sprache“ und „Gotteslästerung“ angefochten. 2024 erneut in Texas und Florida aus Schulbibliotheken entfernt.
Für wen geeignet?
Für erwachsene Leser:innen mit Sinn für schwarzen Humor, Satire und literarische Tiefe.

Die Satanischen Verse
von Salman Rushdie
Worum geht’s?
Ein komplexer Roman über Migration, Religion, Glauben und Identität – mit surrealen, traumartigen Sequenzen, die den Islam in mythologischer Form spiegeln.
Warum verboten?
1988 in vielen Ländern verboten (u. a. Pakistan, Indien, Sudan, Venezuela). Weltweite Kontroversen führten zu Verbrennungen und einer Fatwa gegen den Autor – bis heute eines der gefährlichsten Bücher der Welt.
Für wen geeignet?
Für literarisch erfahrene Leser:innen, die sich mit Religion, Sprache und Freiheit auseinandersetzen wollen.
Zahlen & Fakten: Zensur in den USA 2024
2024 dokumentierte die American Library Association einen anhaltenden Anstieg von Zensurversuchen. Besonders häufig betroffen: Bücher mit LGBTQIA+-Inhalten sowie Titeln zu Rassismus, Inklusion, Gleichberechtigung und sozialer Gerechtigkeit.
- 821 dokumentierte Versuche, Materialien oder Services in Bibliotheken, Schulen und Universitäten zu zensieren.
- 2.452 einzigartige Titel waren 2024 von Anfechtungen betroffen (dritthöchster Wert seit Beginn der Erhebungen).
- 72 % der Zensurversuche gingen auf organisierte Gruppen und von ihnen beeinflusste Entscheidungsträger zurück.
- Häufigste Schauplätze: öffentliche Bibliotheken (55 %) und Schulbibliotheken (38 %).
| Jahr | Anzahl gemeldeter Zensurversuche |
|---|---|
| 2024 | 5.813 |
| 2023 | 9.021 |
| 2022 | 6.863 |
| 2021 | 3.916 |
| 2020 | 278 |
| 2019 | 334 |
| 2018 | 258 |
Wer steckt hinter den Anfechtungen?
Laut ALA werden die meisten Fälle von organisierten Pressure Groups angestoßen und anschließend von Schul- oder Bibliotheksgremien, Verwaltungen und teils auch gewählten Amtsträgern aufgegriffen. Ein kleinerer Teil geht auf Eltern oder einzelne Beschwerdeführer zurück. PEN America weist zudem darauf hin, dass besonders Werke von Frauen, People of Color und Autor:innen aus der LGBTQIA+-Community betroffen sind – also Stimmen, die ohnehin oft um Sichtbarkeit kämpfen.
Banned Books Week 2025 – Rückblick
Die Banned Books Week 2025 stand unter dem Motto „Censorship Is So 1984“ und fand vom 5.–11. Oktober 2025 statt. Der Verweis auf George Orwells 1984 macht deutlich, worum es geht: um die Freiheit, eine eigene Meinung zu bilden – auch, indem wir herausfordernde Bücher lesen und darüber sprechen.
So liest Du klug: Orientierung statt Verbote
Bücher eröffnen Perspektiven, stellen Fragen und laden zum Widerspruch ein. Verbote lösen keine Probleme – sie verschieben nur den Diskurs. Unser Tipp: Lies breit, kritisch und neugierig. Sprich über das, was Dich irritiert. Und entdecke Autor:innen, die zu selten gehört werden.
FAQ – Häufige Fragen zu angefochtenen und „verbotenen“ Büchern
- Was ist der Unterschied zwischen „banned“ und „challenged“?
- „Challenged“ = beanstandet (Entfernung/Einschränkung gefordert). „Banned“ = tatsächlich entfernt, gesperrt oder nur eingeschränkt zugänglich.
- Warum sind vor allem Jugend- und Young-Adult-Titel betroffen?
- YA-Titel behandeln oft Sexualaufklärung, Identität, queeres Leben, Rassismus oder Gewalt – Themen, an denen Debatten besonders schnell entflammen.
- Gibt es spezifische Gesetzeslagen in einzelnen US-Bundesstaaten?
- Ja. Teilweise verpflichten Gesetze Bibliotheken zu „Altersfreigaben“ oder zur Auslagerung als „jugendgefährdend“ eingestufter Bücher; die Regeln variieren je Staat.
- „Obszönität für Minderjährige“ – was heißt das praktisch?
- Begrifflich komplex und kontextabhängig; in der Praxis häufig als Begründung genutzt, Titel mit LGBTQIA+- oder Sexualitätsbezug zu entfernen.
- Wie sammelt die ALA Daten zu Anfechtungen/Verboten?
- Meldungen von Bibliotheken/Schulen + Auswertung öffentlicher Berichte; daraus entsteht ein landesweiter Überblick über Challenges und tatsächliche Verbote.
- Welche Rolle spielen Online-/Social-Media-Kampagnen?
- Sie mobilisieren Pressure Groups, erzeugen Sichtbarkeit und politischen Druck; laut ALA agieren viele Initiativen zunehmend digital organisiert.
- Wie prüfe ich, ob ein Buch lokal eingeschränkt ist?
- Bei Bibliothek/Schulbezirk nach Protokollen/Board-Beschlüssen fragen; „Library/Media Policies“ online prüfen; Übersichten zivilgesellschaftlicher Gruppen nutzen.
- Können Leser:innen selbst aktiv werden?
- Ja. Stellungnahmen bei Boards einreichen, ALA-Vorlagen (z. B. „Book Résumés“) nutzen, Dialog fördern statt stiller Entfernung.
- Wie wirkt sich das auf Second-Hand-Shops wie medimops aus?
- Steigendes Interesse an angefochtenen Titeln: mehr Nachfrage nach Second-Hand, bewussteres Kaufen – nachhaltig lesen, diskutieren, sammeln.
Quelle: American Library Association (ALA), Top 10 Most Challenged Books und State of America’s Libraries Report 2025.